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Stimme, Rhein-Neckar-Zeitung, Pia Geimer

Winterreise-Projekt

zum Auftakt des Jubiläumsjahres - 25 Jahre JOA - interpretierten Tilman Lichdi und Dozenten der JOA die "Komponierte Interpretation" der Winterreise von Hans Zender.


Aufführungen:

02.03.2017 Kilianskirche Heilbronn,

04.05.2017 Stadtkirche Mosbach, 

05.03.2017 Stadtkirche Stuttgart-Bad Cannstatt



Der Kritiker der Heilbronner Stimme, Lothar Heinle, schrieb unter der Überschrift "Blick in die Seele":

Irre Hunde heulen brachial, gefrorene Tränen fallen hörbar in den Schnee, der Hut fliegt sausend vom Kopf. Hat man Franz Schuberts „Winterreise“ (1827)  je intensiver gehört? 1993 nimmt sich der Komponist Hans Zender (1936) die „Winterreise“ vor und verwandelt den heiligen Gral aller romantischen Liederzyklen in eine „Komponierte Interpretation“ für Tenor und kleines Orchester.

Gegenüber seinem engsten Freund Joseph von Spaun sprach Schubert von einem „Kranz schauerlicher Lieder“, die Zender durch ein akustisches Prisma schickt. Als Resultat bleibt ein fein gerastertes Spektrum an Klangfarben. Windmaschine und Donnerblech sind obligatorisch, aber Zender geht über das rein Plakative hinaus, nähert sich dem psychologischen Subtext mit ebenso subtilen wie extravaganten Klangmischungen.

Präzise Dem Ganzen geht das 24-köpfige Ensemble aus Dozenten der Jungen Orchesterakademie der Region Franken (JOA) in der Heilbronner Kilianskirche sorgfältig auf den Grund. Unter der äußerst präzisen Stabführung von Dirigent Michael Böttcher gelingt eine intonatorisch geschliffene Vivisektion an der offenen Seele, die Winterlandschaft als Spiegel der Befindlichkeit wird gründlich umgegraben.

Und mittendrin der Tenor Tilman Lichdi, der den zurückgewiesenen einsamen Wandersmann mit kluger Erzählkunst und sanglich punktgenauer Rhetorik verkörpert. Mühelos kann Lichdi mit strahlend kernigem Fortissimo über dem Ensemble stehen, lediglich in tiefen Lagen sind ihm die Instrumente dynamisch überlegen. Lichdis Hauptzweck liegt in gradlinig zupackender Interpretation, frei von altväterlichem Pathos und jeglichem Ringen um Gehalt. Auch für den Tenor zieht Zender neue Ebenen ein. So darf Lichdi ab und zu ins Mikrofon singen, die Stimme hallt hohl von irgendwoher wider. Mal wird Text nur gesprochen, mal wird die Gesangslinie durch Pausen dramatisch überhöht.

Es dauert, bis sich bei „Gute Nacht“ zu Beginn die vertraute Begleitung aus schabender Perkussion herausschält. Man will sich schon in den ersten Takten an Vertrautes Klammern – huscht da nicht gerade ein bekanntes Motiv in der Gitarre vorüber? Windmaschine und geisterhafte Perkussion begleiten erwartungsgemäß die „Wetterfahne“. Akkordeon und Bläser verleihen dem „Lindenbaum“ vordergründigen Volkston, aber düster grummelnde Pauken gehen mit, das Wandern wird mit lastenden Tempi zum schweren Tritt.

Auf der Stelle  Überhaupt geht es in der „Winterreise“ nie wirklich irgendwohin, alles kreist und tritt auf der Stelle. Ist der Wanderer in „Die Rast“ wirklich zum Schlafen müde? Das Waldhorn bricht sich in „Die Post“ echohaft durch vielfach im Raum verteilte Bläser, vom Totenacker kommt verwehte Begräbnismusik samt Trommelwirbel. Pedaltöne und Flatterzunge im Blech begleiten den trügerisch rauschenden Bach. Gewollt verstellt, verschleiert wirkt die Musik, angereichert durch flächige Klaggebilde („Nebensonnen“). Wirkmächtig geht Abseitiges zusammen, etwa Akkordeon, Melodica und das scharfe Spiel der Streicher. Schaurig tönt das pochende Herz auf den Woodblocks. Und schließlich der alte Mann mit der Drehleier auf dem Eis, das jeden Moment brechen kann. Fragiles Schwanken auf dem Abgrund, rhythmisch und klanglich bizarr aufgefächert.


Verdienter langer Beifall für diesen gelungenen Jubiläumsauftakt zu „25 Jahre JOA“.





Über das Konzert in Mosbach war in der Rhein-Neckar-Zeitung zu lesen (Pia Geimer):


Die „Winterreise“ einmal aufregend anders


Tilman Lichdi (Tenor) und Mitglieder der Jungen Orchester Akademie machten Schuberts Liederzyklus in der Fassung von Hans Zender zu einem packenden Erlebnis.


Als „komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester“ bezeichnete der Komponist Hans Zender (*1936) seine 1993 uraufgeführte Fassung von Schuberts „Winterreise“. Dieses anspruchsvolle Werk hatte sich die Junge Orchesterakademie der Region Franken (JOA) unter ihrem Dirigenten Michael Böttcher zu ihrem 25. Geburtstag vorgenommen und eröffnete das Jubiläumsjahr mit drei Aufführungen, eine davon in der Mosbacher Stiftskirche. Die Zuhörer erlebten eine aufregend „andere“ Winterreise mit dem grandiosen Tenor Tilman Lichdi und 24 ambitionierten Instrumentalisten, die den Abend zu einem unglaublichen Ereignis für Augen und Ohren werden ließen.

Dass Schuberts berühmter Liederzyklus in seiner üblichen Aufführungsform für Singstimme und Klavier keineswegs ein unantastbares Monument bleiben muss, bewies Hans Zender in seiner ebenso erfindungsreichen wie einfühlsamen Orchestrierung. Den Gesangspart des Solisten beließ er nahezu unverändert, aber die bis ins kleinste Detail ausgefeilte ungewöhnliche Instrumentierung (u.a. Gitarre, Akkordeon, Melodica, Windmaschine) eröffnet eine ganz neue Klanglichkeit, die weitaus mehr ist als eine bloße Transkription des Klavierparts. Die innere Reise des unglücklichen Wanderers, der auf seiner Flucht durch eine erstarrte Winterlandschaft der Welt immer mehr abhanden kommt, wird auf hochintensive Weise neu interpretiert. Teilweise werden Instrumentalisten im ganzen Raum verteilt, sodass das Publikum wie inmitten eines dreidimensionalen klingenden Gebäudes sitzt. Selbst die wie traumwandlerisch anmutenden Bewegungen der Musiker im Raum gehören zum Stück, gelegentlich auch die absolute Stille, wo der Rhythmus noch lange weiter tickt, ohne dass ein einziger Ton erklingt.

Die Intimität und Zartheit der Klavierfassung wird in Zenders Fassung zwar aufgegeben, dafür gibt es einen klug eingesetzten orchestralen Farbenreichtum, der zuweilen überraschende Klänge entstehen lässt. Mit differenzierten Techniken und komplexen Rhythmen wird den beteiligten Musikern viel Können und hohe Konzentration abverlangt. Die JOA, die für gewöhnlich in sinfonischer Stärke auftritt, reagierte auch in dieser anspruchsvollen kleinen Besetzung hochsensibel auf Michael Böttchers Dirigat, der mit Durchblick das vielschichtige Geflecht der Stimmen sicher lenkte und seinen Solisten Tilman Lichdi behutsam begleitete. Und der lieferte ein wahres Meisterstück ab: Er sang seinen Part wie ein Fels in der Brandung, mit derselben Feinheit und Innerlichkeit, als sei nur ein Klavier hinter ihm. An einigen wenigen Stellen, wo die Instrumente mächtige orchestrale Klangfülle entwickelten, griff er auch einmal zum Mikrofon – ungewohnt, aber genau so steht es auch in der Partitur. Die Elektronik wird zum Teil der Instrumentation.

Tilman Lichdi verfügt über eine wunderbar ausgewogene Tenorstimme mit baritonaler Wärme in der Tiefe und einer superschönen, gänzlich unangestrengten Höhe. Grandios, wenn er (ohne Mikro) in ein kraftvolles Forte ging, das anscheinend mühelos über den Orchesterklang hinweg trug. Feinsinnig gestaltete er auch die leisen Emotionen und den verlöschenden Lebenswillen des Wanderers, dessen Seele am Ende erstarrt wie die eisige Landschaft. Das düstere Nachspiel des Orchesters lässt keinen Zweifel am tragischen Ausgang der Geschichte, die Spur des einsamen Wanderers verliert sich wie im Nebel. Eine sehr lange, intensive Stille folgte dem letzten einsamen Ton, dann erst löste sich die Spannung beim Publikum, das die Mitwirkenden an diesem ungewöhnlichen Geburtstagskonzert mit einem Riesenapplaus feierte. Ein wahrlich packender Auftakt zum Jubiläumsjahr 2017, das Michael Böttcher und seine fleißige JOA mit fünf weiteren Projekten krönen werden.




(Foto: Pia Geimer)

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